Gast bei KGM´s Eltern
Tim Reinhold
Gast bei KGM´s Eltern

Da war er wieder. KGM (Kevin-Gandalf-Malte). Die wandelnde Lebensmittelintoleranz und der Freund meiner ältesten Tochter. Nach mehreren Monaten muss ich sagen, dass sich mein Bild von ihm wesentlich geändert hat. Ich fand den Sprössling von Dinkel-Dörte und Alpakawolle-Wolfgang schon immer nervtötend – wobei das nicht ganz stimmt. Seine Eltern sind nervtötend. Und die kannte ich noch vom Spielplatz, als wir alle noch so taten, als würden unsere Kinder zufällig nebeneinander spielen und wir selbst nicht längst in stiller Feindschaft konkurrierten, wer die biologisch korrekteste Brotdose hatte.
Der kleine Hoffnungsträger war vieles, aber definitiv nicht die erste Wahl, die ich mir für meine Tochter gewünscht hätte – also meine Prinzessin, meine Erbin, mein zartes Licht im Morast der Moderne. Nicht, dass er nicht die erste Wahl hätte werden können – zum Beispiel beim Erkunden von Minenfeldern. Oder um zu schauen, ob da draußen Haie sind. Im offenen Meer. Bei Nacht. Mit rohem Fleisch in der Badehose. Aber dass er ausgerechnet mit meiner Tochter... Man möchte sich einen Schraubenzieher direkt durchs Auge ins Hirn jagen, um diese Bilder aus dem Kopf zu bekommen – begleitet von panischem Schluchzen und einer Desinfektion mit Salzsäure durch die Nase.
Doch als Vater musst du manchmal abwarten. Lauern. Den richtigen Moment abpassen. Oder einfach hoffen, dass es sich um eine Form pubertärer Rebellion handelt, eine Phase, eine hormonelle Störung, die das Kind eines Tages mit einem klaren Blick und einem leisen „Was habe ich mir nur gedacht?“ beendet – gefolgt von einem spontanen Sinneswandel, der sie mit einem promovierten Notar mit Hausschuhen und emotionaler Verfügbarkeit zusammenführt.
Doch Kevin-Gandalf-Malte blieb. Er war regelmäßig zu Besuch. Ich habe keine Ahnung, warum. Vielleicht, weil unsere Familie den Reiz des Gefährlichen hat – Kühlschrank mit echtem Käse, ein Esstisch aus Tropenholz, und ich, das fleischgewordene Testosteron mit Hang zur Zynik. Er quatschte mir regelmäßig ein Kotelett an die Backe – metaphorisch, versteht sich, denn echtes Kotelett hätte er vermutlich nur unter Tränen angefasst und anschließend mit einem Lavendelritual beerdigt. „Gesunde Ernährung ist der Garant für ein langes Leben“, hatte er einmal gesagt. Und ich musste mich schwer beherrschen, nicht zu antworten: Ja, aber ein langes Leben mit Quinoa ist trotzdem scheiße.
Ein Typ, der bereits Schnappatmung bekommt, wenn das Essen nur an Gluten vorbeigetragen wurde. Der bei jeder Form von Laktose zur wandelnden Gasfabrik mutiert und mein geheiligtes Klo stundenlang blockierte, es in einen Raum verwandelte, der unter den Genfer Konventionen mit Sicherheit gegen irgendein Menschenrecht verstößt. Der Zustand war so kritisch, dass ich kurzzeitig überlegte, eine Duftkerze als Beweismittel dem internationalen Strafgerichtshof zu schicken. Und doch – tief in meinem Herzen verspürte ich eine Spur von Mitleid für diesen Jungen. Die Art von Mitleid, die man für einen alten, schwachen Hund empfindet, der einen flehend anschaut, als wolle er sagen: Mach's einfach schnell. Ich bin bereit.
Aber wie erkläre ich das meiner Tochter, wenn ich mit ihm und einer Flinte in den Wald fahre? Wie verkaufe ich diese Szene als bonding-Moment, als Vatertochterfreund-Erlebnis mit leichtem Survival-Touch und einem tragischen Jagdunfall-Potenzial? Ich übe mich in Zurückhaltung. Noch.
Lange Rede, kurzer Sinn: Wir mussten den elterlichen Anstandsbesuch absolvieren. Das Pflichtprogramm des bürgerlichen Wahnsinns. Das kleine gesellschaftliche Höllenfeuer, durch das jeder Vater muss, wenn seine Tochter einen Mann mit biologisch abbaubaren Kondomen liebt. Wir tauchten ein in die ökologische Hölle – barfuß, versteht sich – und ich wusste: Nur C₂H₅OH würde mich vor dem völligen mentalen Zusammenbruch retten. Also hatte ich vorher ein wenig Ethanol in mich hineingeschüttet, nichts Dramatisches, nur so viel, dass ich die Worte „Chia“ und „Darmflora“ hören konnte, ohne mir mit der Kuchengabel die Trommelfelle durchzustechen. Ich war nicht betrunken, nein – das hätte diesen Moment zu angenehm gemacht. Ich war in diesem herrlich schwebenden Zustand zwischen „alles ist mir egal“ und „ich spüre meinen linken Fuß nicht mehr“. Es reichte aus, um noch geradeaus zu laufen, aber nicht mehr, um das Gespräch über energetisierte Zahnseide ernst zu nehmen.
Die Tür öffnete sich und da standen sie: Dörte, in einem Gewand, das vermutlich aus handverlesener Wolle von freilaufenden Schafen bestand, denen man vorher ein Gedicht vorgelesen hatte. Und Wolfgang – mit grauer Duttfrisur, ohne Schuhe, aber mit einem Blick, der sagte: Ich meditiere jeden Morgen und kann dich trotzdem auseinandernehmen, du kapitalistischer Fleischprophet. Ich setzte mein freundlichstes Lächeln auf. Mein Gesicht fühlte sich an wie eine schlecht programmierte Maske in einem alten Videospiel. Während wir uns an den Tisch setzten, fragte Dörte, ob ich das Wasser energetisiert haben möchte oder lieber „roh belassen“. Ich sagte „mit Kohlensäure“, woraufhin ein Moment der Betroffenheit eintrat, der sonst nur bei Naturkatastrophen üblich ist.
Kevin-Gandalf-Malte leuchtete, als wir gemeinsam saßen – mit seiner Prinzessin, seinen Eltern, und mir, dem Totemtier des Kalorienüberschusses. Ich schaute zu meiner Tochter. Sie war glücklich. Offen, leuchtend, liebevoll – und ich, der misstrauische, grantelnde Vater, der sich monatelang durch ökologische Prinzipien, verbotene Lebensmittel und Badezimmergasangriffe gekämpft hatte, saß plötzlich da und dachte: Verdammt. Vielleicht ist das kein Unfall. Vielleicht liebt sie ihn wirklich.
Ich nippte an meinem Bio-Hagebuttentee, der verdächtig nach Spülmittel schmeckte, und ließ die Erkenntnis zu: Dieser Junge – Kevin-Gandalf-Malte – war vielleicht kein Held, kein Pionier, kein Schwiegersohn, den ich mir im Märchen ausgemalt hätte. Aber er war sanft. Er war bemüht. Er war irgendwie… harmlos. Sollte er jemals meiner Tochter weh tun, reicht ein Anhauchen und er würde Jahre auf der Intensiv und mit Reha verbringen.
Und das, so wurde mir klar, ist im Leben meiner Tochter vielleicht gar nicht das Schlechteste.
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Dinkel-Dörte und Alpakawolle-Wolfgang waren zu Besuch – angeblich die leiblichen Eltern von Kevin-Gandalf-Malte, dem Freund meiner ältesten Tochter. Persönlich glaube ich ja, dass er ein missglücktes Laborexperiment ist oder von Aliens auf unserer Türschwelle abgelegt wurde. Belegen konnte ich das bisher allerdings nicht, trotz intensiver Google-Recherche. Eigentlich meide ich solche Treffen zuverlässig, indem ich plötzlich einen dringenden Servernotfall simuliere oder mir spontan einfällt, dass noch ein Text dringend fertig werden muss. Heute aber half nichts. „Wir müssen mit euch allen reden“, hatte meine Tochter gesagt – was übersetzt heißt: Anwesenheitspflicht mit vorgetäuschtem Interesse und ernstem Blick. Da ich wusste, was mich erwartet, veredelte ich meinen Kaffee auf irische Art – mit Whiskey – um ein gewisses Maß von „ist mir alles scheißegal“ zu erreichen. Es funktionierte nur mäßig. KGMs Mutter – Dinkel-Dörte – lief wieder in diesem ausgesonderten Kartoffelsack aus Leinen herum, der bei ungünstiger Beleuchtung eine fast durchsichtige Transparenz entwickelte. Wer hinsah, verspürte den unstillbaren Drang, seine Augen mit Salzsäure zu reinigen. Der Vater, Alpakawolle-Wolfgang, trug erneut seine fröhlich gemusterte, garantiert blickdichte Wollgarnitur. Für einen Tag mit 21 Grad eine zweifelhafte Wahl. Er schwitzte so stark, dass ich meinem Sohn zuflüsterte, er solle schon mal Noah anrufen, ob die Arche noch zum Kauf stünde. Sicher ist sicher. Meine Frau servierte eine Gnocchi-Gemüsepfanne – vegan. Nein, das störte mich nicht. Ich kann mit vegan leben, allein weil ich am Vortag großzügige Teile einer Kuh durch den Grill befördert hatte. Karma-Ausgleich. Was mich störte, war dieser Blick. Der, den sich meine Tochter und KGM permanent zuwarfen. Dieses verschwörerische Grinsen. Auch alle anderen waren ungewöhnlich still. Normalerweise hielt Alpakawolle-Wolfgang zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Vortrag über biologisch-dynamische Lebensmittel, die nur unter Vollmond geerntet und auf energetischen Steinen gelagert werden. Doch heute? Schweigen. Ich schob es auf akute Dehydrierung – sein Körper hatte sich bereits in eine Art schweißgetriebene Gletscher-Schmelze verwandelt. Als ich zu meiner Frau sah, bemerkte ich ihre Nervosität. Sie – meine sonst so undurchdringliche Fürstin der Finsternis – nervös? Wenn sie nach dem Tod nicht direkt ihren Thron in der Hölle besteigt, weiß ich auch nicht. Irgendwas war faul. Nach dem letzten Bissen sprangen KGM und meine Tochter auf. „Wir müssen euch etwas verkünden.“ Oh Gott... bitte nicht schwanger. Ich kenne diese Tonlage. Meine Frau legte ihre Hand auf meine. Nein. Das macht sie nur, wenn die Kinder den Vorratsschrank geplündert haben oder sie beim Einkaufen wieder so eskaliert ist, dass meine Kreditkarte an der Kasse Feuer fing. „Wir sind ja schon eine Weile zusammen und lieben uns ganz doll.“ Oh nein... Es war das zweitschlimmste. „Wir haben uns verlobt. Nächstes Jahr wird geheiratet!“ — TILT — „Timmm?“ Diese Stimme... dumpf, entfernt... Als ich die Augen öffne, sehe ich unter die Couch. Mein zweiter Hausschlappen. Ein schöner Moment. „Tim, Tim, Tim, Tim...“ Dinkel-Dörte. Direkt über mir. Das Licht fällt... ungünstig. Ich sehe alles. Sie trägt nichts darunter. Mein Hirn schickt eine sofortige Notfallmeldung an die Augen: Wir müssen sterben. Dieser Busch... ein botanisches Großprojekt. Nah dran an Chewbacca. Ich reiße mich hoch. Mein Kreislauf ist anderer Meinung. Herz und Hirn arbeiten noch im Fernstudium. Ich schwanke, finde Halt – und versuche nicht zu schreien. Ich schleppe mich in die Küche und kippe den restlichen Whiskeykaffee wie ein Lebenselixier in mich hinein. Dinkel-Dörte steht mittlerweile in der Tür, nackt unter Leinen, schwitzend, mit einer Aura zwischen „Mutter Natur“ und „Schrecken der Kreidezeit“. „Willst du nochmal über die Hochzeit reden?“, fragt sie mit dieser Stimme, die klingt wie nasser Kork auf Keramik. „Ich will gar nichts mehr. Ich will Zeitreisen und euch Kondome geben.“ Plötzlich steht KGM neben mir. Er trägt ein selbst gehäkeltes Stirnband und eine Hose aus Hanf, die aussieht wie aus Papier. „Wir planen eine freie Zeremonie. Barfuß. Am Kraftort.“ „Kraftort“, wiederhole ich. „Wo genau? Ein Vulkan? Oder das örtliche Klärwerk?“ „Ein Waldplatz, energetisch sehr aktiv. Mama hat ihn gefunden, direkt bei ihrer Ahnen-Eiche. Wir werden dort die Zermonie durchführen.“ Ich nicke langsam. „Aha. Und wie viel LSD ist geplant?“ „Nur Liebe, Tim. Nur Liebe.“ In mir wächst eine dunkle Vorahnung. Das wird kein Hochzeitstag. Das wird ein dreitägiger Öko-Exorzismus mit Catering.

"Kann man hier eigentlich nicht mal fünf Minuten seine Ruhe haben?" Ich hatte Kopfschmerzen – nicht diese leichten Spannungskopfschmerzen, sondern ein Vollpaket von Migräne, inklusive Aura und dem Gefühl, jemand würde eine glühende Eisenstange gegen meinen Schädel pressen. Selten geworden, aber das absolute „Fuck you“ des Gehirns. Denn wenn das vorkommt, gibt es bei mir drei Emotionen: – Hass – Müdigkeit – Hunger Ja, ich weiß – die habe ich auch, wenn ich keine Migräne habe, aber diese steigert meine emotionalen Top 3 mit einem Faktor von 100. Bong, Bong, Bong. Es konnte nur einer sein … Kevin lief wieder mit seinem „echten“ tibetanischen Gong durch die Wohnung, welcher die Aufschrift Made in Indien trägt. Dass KGM kein Genie in Geografie ist, wusste ich schon vorher – aber ist ja ungefähr dieselbe Richtung. Ich schleppte mich zur Tür wie eine moralisch resignierte Schildkröte auf Valium und riss sie auf. Da stand er. Kevin. Im Kimono. Natürlich. Und barfuß. Natürlich. Und mit einem Ausdruck im Gesicht, als hätte er soeben eine höhere spirituelle Ebene erreicht – vermutlich die, auf der man kein Feedback mehr annehmen muss. „Bruder“, säuselte er mit einem Tonfall, der irgendwo zwischen Dalai Lama und Drogenrest war, „du musst dich dem Klang hingeben. Nur dann kannst du wirklich heilen.“ Ich überlegte kurz, ihm den Gong über den Schädel zu ziehen – therapeutisch natürlich, wegen meiner Migräne –, aber ich entschied mich dagegen. Hauptsächlich, weil ich Angst hatte, er würde das als Zeichen universeller Akzeptanz missverstehen und mir dann zum Dank einen Yogi-Tee brühen. „Kevin“, krächzte ich, „wenn ich noch einen Ton von diesem Blechpizzateller höre, beschwöre ich eine Aura herauf, die dich direkt ins Nirwana schiebt.“ Er grinste. „Ich werde in das Bardo Thödol übergehen.“ „Bitte was?“ „Die Welt zwischen Tod und Wiedergeburt.“ „Pass auf, ich bin Krankenpfleger und ausgebildet, dich über Jahre ins Koma zu legen und am Leben zu erhalten – das ist dann dein Bardo Thödol. Also: Ruhe jetzt.“ Kevin suchte bei meiner Tochter den Blickkontakt. Sie nickte nur und sagte: „Ja … das kann er wirklich …“ Er entschied sich, seinen persönlichen Blechtrommel-Gong ganz schnell verschwinden zu lassen und nicht den Zorn der Götter heraufzubeschwören. Ahhh … Couch. Ruhe im Haus. Mein Körper entspannte langsam, und ich war im Begriff, die Wachfunktionen in den Stand-by-Modus zu versetzen, als eine E-Gitarre ertönte – Master of Puppets. Fuck … Liv übt. Kann mir bitte jemand den Gnadenschuss geben?

Mein Sohn stand in der Küchentür, im Jogginganzug. „Na, Netflixtag?“ fragte ich, denn Jogginganzug bedeutet bei ihm eigentlich: Der Tag wird im Bett verbracht, während irgendwelche Serien durchgesuchtet werden. „Liv und ich gehen joggen.“ Ich fühlte mich in dem Moment wie meine Leser, wenn sie in den Kommentaren schreiben, dass sie vor Lachen den Kaffee ausgespuckt haben — und genau das tat ich auch. Eine elegante Fontäne frisch getrunkenen Kaffees dekorierte die Küche. „Du? Joggen?“ japste ich, während ich versuchte, mich auf dem rutschigen Küchenboden auf den Beinen zu halten. „Das letzte Mal bist du mit sieben gejoggt, als wir dir erzählt haben, dass bei uns im Wald Pokémon ausgewildert wurden.“ Er schaute finster. „War echt ’ne gemeine Nummer.“ „Und dann bist du vor der alten Frau weggelaufen, weil du dachtest, das sei die Hexe aus Hänsel und Gretel.“ „Die sah aber auch wirklich gruselig aus!“ verteidigte er sich, während er die Arme verschränkte, was im Jogginganzug ein bisschen so aussah, als würde er sich selbst in Frischhaltefolie wickeln. In diesem Moment betrat Liv die Küche. Schwarze Leggings, ein Shirt mit der Aufschrift „Schau mir auf den Arsch und ich trinke heute Abend Met aus deinem Schädel“, der Zopf so streng nach hinten gezogen, dass wahrscheinlich irgendwo in der Welt ein Faltenunterspritzer spontan seine Praxis schließen musste. „Na, bist du bereit?“ fragte sie meinen Sohn und klopfte ihm auf die Schulter. Dann sah sie mich an. „Kommst du mit?“ Ich hob die Augenbraue. „Seh ich so aus, als ob ich jogge?“ Sie grinste breit. „Stimmt auch wieder. Man soll alte Leute ja nicht so anstrengen.“ Alte Leute. Ich. ALT. Meine Ehre bekam keine Delle — sie wurde von einem Panzer überfahren, rückwärts, und dann nochmal vorwärts, für alle Fälle. „Ich bin gleich wieder da“, verkündete ich heroisch, stellte meinen Kaffee ab und stürmte ins Schlafzimmer. Kurze Zeit später trat ich wieder hervor: Sport-Tim — ein seltener Anblick, ungefähr so selten wie ein weißer Löwe oder ein Einhorn auf E-Roller. Meine Sportkleidung war... nun ja. Die Hose spannte derart, dass ich bei jeder Bewegung ein leises "Ich kapituliere" von den Nähten hörte. Das Oberteil saß so eng, dass man jede noch so kleine Bewegung meines Zwerchfells verfolgen konnte wie bei einem National Geographic-Spezial über Wildtiere in der Savanne. Liv blinzelte irritiert. Mein Sohn versuchte, nicht laut loszulachen, was zu einem seltsamen Würgegeräusch führte. „Bereit“, röchelte ich und versuchte, mein linkes Bein über die Schnürsenkel zu heben, was nur mit erheblichem Einsatz meiner Hüftgelenke gelang – die sich anschließend per sofortiger Dienstunfähigkeit krankmeldeten. „Ich mach mich nur noch schnell warm“, keuchte ich und versuchte, mich leicht zu dehnen. Ein Knacken. Ein Zerren. Eine Bewegung, die wahrscheinlich irgendwo ein seismisches Frühwarnsystem auslöste. Liv nickte anerkennend. „Respekt. So viel Mut muss man erst mal haben.“ Und so begann unser gemeinsames Joggingabenteuer — ich, der keuchende Elch, mein Sohn, der nur lief, damit Liv ihn nicht für einen Schwächling hielt, und Liv selbst, die locker nebenhertrippelte und zwischendurch vermutlich noch einen Einkaufszettel schrieb. Nach genau 800 Metern — und ich habe sie gezählt, mit der Präzision eines Marathonläufers, der jeden Schritt bis zur Zielgeraden verflucht — trat ich heldenhaft zur Seite. „Ich glaube, ich dehne hier mal die Gegend ein bisschen... Ihr lauft ruhig weiter.“ Mein Sohn grinste. Liv lachte. Und ich stand da, schwitzend, japsend, aber innerlich sehr stolz. Denn manchmal, da reicht es auch einfach, den inneren Schweinehund kurz zu streicheln — und ihn dann wieder auf die Couch zu schicken.

"Wie geht es dir, Junge?" fragte ich Kevin-Gandalf-Malte, der auf unserem sonnenüberfluteten Balkon lümmelte. Seine Beule auf der Stirn war erfreulicherweise von "Bratpfanne" auf "Pfirsich" geschrumpft, und das wirre Geschwafel hatte er auch eingestellt. 21 Grad zeigte das Thermometer, Frühling nach diesem ewiggrauen Kotzwinter – ich war tatsächlich mal halbwegs gut gelaunt. Also saßen wir da, zwei Männer auf Plastikstühlen mit Alufolie-Rissen, nur wir. "Wird das jetzt so ein Gespräch, bei dem ich am Ende wieder draußen vor der Tür stehe?" fragte er, Stirn kraus, Gesicht wie ein geprügelter Dackel. Nicht ganz die Antwort, die ich erwartet hatte. "Weißt du, Kevin", begann ich staatsmännisch und lehnte mich zurück wie ein Feldherr, der gleich eine Truppenbewegung ankündigt, "es ist eine Menge vorgefallen. Aber wir – und mit wir meine ich wir, die in dieser Wohnung tatsächlich Miete zahlen – haben entschieden, dir noch eine Chance zu geben." (Eure Abstimmung vom letzten Sonntag) Er atmete hörbar aus, als hätte er gerade erfahren, dass "Dauerbesuch" doch nicht automatisch "Mietbeteiligung" bedeutet. Er sah mich lange an, der langhaarige Prophet im Discount-Leinengewand, während ich innerlich eine Wette abschloss, ob gleich ein Räucherstäbchen angezündet würde. Ich ließ ihm die Zeit. Sollte ja ein ehrliches Männergespräch werden. "Ihr wisst doch, ich liebe eure Tochter wirklich." "Habe ich nie angezweifelt", sagte ich, wobei mein inneres Vater-Ich mit verschränkten Armen im Türrahmen stand und skeptisch die Augen zusammenkniff. "War ein großer Pluspunkt bei unserer Entscheidung. Auch wenn ich ihre Wahl manchmal so nachvollziehen kann wie... wie man halt Frauen als Mann versteht." Betretenes Schweigen. Also stand ich auf, bedeutete Kevin-Gandalf-Malte zu warten und kehrte triumphierend mit zwei Gläsern und meinem besten Whiskey zurück. (Also... mein bester Whiskey, der in Wirklichkeit ein Geburtstagsgeschenk war, aber hey.) Er wollte ablehnen – ich ignorierte das höflich – und goss uns ein. "Lass uns den Abend genießen und ein Gespräch zwischen Vater und Sohn führen." Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. "Vater und Sohn?" "Kevin, du bewirbst dich hier gerade offiziell als Freund und potenzieller Ehemann meiner Tochter. Damit wärst du dann mein Schwiegersohn und ich dein Schwiegervater. Ist im Prinzip Vater und Sohn light." Er nickte, und ich sah ihm an, dass ihm die Vorstellung gefiel. Tatsächlich tranken wir den Whiskey nicht aus, sondern stiegen irgendwann auf Kaffee und Tee um – das Alter lässt grüßen. Die Sonne senkte sich wie ein alter Vorhang über den Horizont, und wir redeten bis in die Nacht. Zum ersten Mal richtig. Über alles: Leben, Liebe, seine komischen Weltansichten und warum er glaubte, dass Energie aus Steinen fließt, wenn man sie nur ordentlich auflädt (vermutlich an einer Mehrfachsteckdose). Und obwohl ich von seinem esoterischen Hokuspokus so viel verstand wie ein Goldfisch von Steuerrecht, beeindruckte mich, mit welcher Selbstverständlichkeit er seinen, in meinen Augen, Unsinn verteidigte. "Schau mal, Kevin, die tausenden Sterne da oben." Ich deutete in den Nachthimmel. "Unsere Vorfahren glaubten, jeder dieser Lichtpunkte wäre die Seele eines Verstorbenen." "Schöne Vorstellung, oder?" fragte er leise. "Ja", sagte ich. "Heute wissen wir natürlich, dass es brennende Gasbälle sind, Milliarden Kilometer entfernt. Aber weißt du was? Auch wenn ich nicht an deine Eso-Kristallgedöns glaube – wenn es dir Trost gibt, dann respektiere ich das." Und dann saßen wir da. Zwei Männer, eine Kanne Kaffee und eine mit Tee zwischen uns, der Sternenhimmel über uns – und der leise Verdacht, dass wir vielleicht doch irgendwie auf derselben Wellenlänge funken könnten, wenn auch nicht so, wie man es sich eigentlich vorgestellt hat. Einer auf UKW, der andere auf... keine Ahnung... spirituellem Morsecode.

Jeder, der mit einer Frau irgendwie zusammenlebt oder -verkehrt – und damit meine ich nicht den Straßenverkehr – kennt dieses einzigartige Naturereignis namens Erdbeerwoche. In einem Zeitraum von vier bis sieben Tagen verwandelt sich das sonst so süße, liebevolle Wesen in eine emotionale Achterbahnfahrt mit Loopings, freiem Fall und einem gelegentlichen Feuerwerk aus Tränen, Wut und spontaner Schokoladensucht. Schon ein falscher Atemzug deinerseits kann zur Kriegserklärung führen, während du nachts um drei gezwungen bist, eine Tankstelle zu überfallen – rein hypothetisch natürlich – um eine bestimmte Sorte Schokolade zu besorgen, die es nur alle Schaltjahre gibt und die selbstverständlich gestern schon leer war. Klar, man gewöhnt sich irgendwann dran. So wie an Hämorrhoiden oder Radfahrer, die nebeneinander auf der Landstraße fahren – nervtötend, aber irgendwie arrangiert man sich. Nun aber zum eigentlichen Problem: Ich habe nicht eine emotionale Naturgewalt in meiner Wohnung. Nein. Ich habe drei. Drei zyklische Desaster, die sich nicht abwechseln – das wäre ja noch human, wie eine geregelte Schichtarbeit beim Irrsinn. Nein, das Zauberwort lautet: zyklische Synchronisation. Was Wissenschaftler immer noch diskutieren, ist bei uns Alltag. Ich habe schon überlegt, das Ganze patentieren zu lassen – als Naturphänomen oder vielleicht als neue olympische Disziplin: Kollektives PMS mit Hindernislauf und Zielwurf auf männliche Emotionen. Ich selbst führe inzwischen einen detaillierten Zykluskalender – nicht aus wissenschaftlichem Interesse, sondern zur Lebensrettung. Ich plane Geschäftsreisen mit chirurgischer Präzision. Mein Fluchtgepäck steht immer bereit: ein Koffer mit Socken, Unterhosen, einem Schokoladenvorrat für alle Fälle – und einem kleinen Zettel mit den Worten: „Wenn ihr das lest, bin ich schon weg.“ Um die Situation in meiner Abwesenheit zu deeskalieren, habe ich einen alten buckligen Mann aus der Nachbarschaft engagiert – nennen wir ihn Gustav. Seine Aufgabe: täglich ein Paket Schokolade vor die Tür legen, wie ein Lieferant für süße Notfallmedizin. Er trägt dabei eine Schutzweste und ein Gebetbuch. Sicher ist sicher. Neulich hat Gustav mir berichtet, dass er nun eine eigene Therapiegruppe gegründet hat: Anonyme Schokolieferanten. Sie treffen sich jeden Dienstag, sprechen über ihre Erfahrungen und basteln an Kevlarwesten mit eingebauten Pralinenfächern. Doch es sollte die erste Gelegenheit werden, dass Kevin-Gandalf-Malte und ich uns ein wenig näherkommen. Denn eines verbindet uns Männer alle: das seelische Leid, das uns während der Menstruation angetan wird. Und so entdeckten wir, dass wir eigentlich Brüder im Geiste sind.

The body content of yWährend mein Sohn in der Fahrschule versuchte, das Anfahren am Berg nicht mit einem Raketenstart zu verwechseln, und meine Frau ihren wöchentlichen Beutezug bei DM veranstaltete – bewaffnet mit Payback-Punkten und einem Tunnelblick, der jedes Navi neidisch machen würde – ließ KGM sich parallel von meiner Tochter mit Hilfe von Räucherstäbchen und einem Klangschalen-Exorzismus die Beule am Kopf austreiben. Ich hingegen hatte ein paar rare Minuten der Zweisamkeit mit Liv. Aber nicht was ihr jetzt denkt, ihr kleinen Schweinchen. Nein, wir saßen ganz sittsam am Esstisch und betrieben gepflegten Smalltalk – also diese Disziplin zwischen belanglosem Geplapper und passiv-aggressiver Psychoanalyse. „Ist dir mal aufgefallen, dass Kevin seit seinem Unfall ein bisschen… anders ist?“, fragte ich vorsichtig. „Welchen Unfall meinst du genau? Die Geburt?“, entgegnete Liv trocken. Ich musste mir das Lachen verkneifen, was nur mäßig gelang und in einem erstickten Grunzen endete. „Nein, ich meine den mit der Beule. Freizeitpark. Wahrscheinlich zu viel G-Kraft für sein Resthirn.“ „Ach der. Joa… Ich kenn ihn ja noch nicht lang, aber er wirkt auf mich schon eher strange – und damit mein ich nicht Doctor Strange, sondern mehr so Einer flog übers Kuckucksnest, aber ohne Nest und mit kaputtem Kompass im Kopf. Er wär auf jeden Fall ein Topkandidat für 'ne transorbitale Lobotomie.“ Ich war ernsthaft beeindruckt, dass sie wusste, was das ist. Für alle anderen: Das ist eine uralte Methode der „Psychotherapie“, bei der man einem Menschen mit einem Eispickel durchs Auge ins Gehirn piekst – ganz ohne Navi, aber mit ordentlich Schmackes. Danach sabbert der Patient meistens nur noch, was laut damaliger Medizin als Besserung galt. „Woher kennst du das überhaupt?“ „Doctor Strange?“, fragte sie scheinheilig. „Nein, die Lobotomie!“ „Ach so, mein Bruder hatte mal so ’ne Phase.“ Ich beschloss in dem Moment, keinerlei Nachfragen zu stellen. Wenn ihr Bruder die Phase überlebt hatte – Respekt. Wenn nicht – Ruhe in Frieden, lieber Gregor. Oder wie auch immer. Also, Themawechsel. „Und, wie hast du dich so in der Familie eingelebt?“ – Okay, vielleicht auch kein Volltreffer an Sensibilität. „Och doch“, sagte sie und nahm einen Schluck Kaffee. „Ich hab jedenfalls noch nie so elegant einen rotierenden, rasierten Penis auf einem Autodach urinieren sehen.“ Ich starb innerlich. Ein bisschen. „Zu meiner Verteidigung“, fügte ich hastig hinzu, „ich wurde unfreiwillig durch ein Inhalat in einen Zustand versetzt, der vor Gericht offiziell als unzurechnungsfähig gilt.“ Der Richter sah das übrigens auch so. Sie grinste. „Ich mag dich. Du bist wenigstens nicht so ein trockener, angestaubter Typ, der zum Lachen in den Keller geht.“ Dabei legte sie mir eine Hand auf die Schulter. Warm. Schwer. Ich spürte fast sowas wie Zuneigung oder einen heimlich übertragenen Stromstoß. Man weiß ja nie bei Liv. „Hast du schon Pläne gemacht, wie wir Kevin umdrehen?“ wollte sie wissen. „Ich dachte, wir fangen erstmal mit was Harmlosen an. Schönes Konzert. Lassen ihn Pogen und die Wall of Death kennenlernen.“ Das war mein grandioser Plan – er sollte das Leben mal wieder schmecken, nicht irgendwann als selbsternannter Eremit auf einer abgelegenen Alpenhütte enden, wo er mit seinem eigenen Kot Höhlenmalereien an die Wände schmiert und mit Murmeltieren über Existenz philosophiert. Liv nickte anerkennend. „Nicht schlecht. Vielleicht noch ein bisschen Schlammcatchen, Flunkyball und eine Runde 'Wahrheit oder Pflicht', aber mit Tabasco-Einläufen.“ Ich runzelte die Stirn. „Du meinst… jugendfreundlich, oder?“ „Naja“, sagte sie mit einem Schulterzucken, „so jugendfreundlich wie unsere Familie eben ist.“ In diesem Moment flog ein Klumpen Räucherwerk durch die Tür und landete brennend im Ausguss. Meine Tochter tauchte mit ernstem Blick im Raum auf. „Papa, Kevin fängt an, Latein zu sprechen. Rückwärts.“ Liv lachte. „Dann wirkt’s ja endlich.“ Ich seufzte und stand auf. „Na gut. Exorzismus, dritter Akt. Bring die Klangschale mit – und vielleicht 'ne Tüte Chips. Ich hab Hunger.“

Wusstet ihr eigentlich, dass manche Männer kreischen können wie Teenie-Mädchen auf einem Taylor-Swift-Konzert? Nein? Ist wirklich ein Erlebnis. Familienausflug stand an – und das bei unserer Familiengröße, die inzwischen eine eigene Vorwahl und diplomatische Vertretung verdient hätte. Ich schlug vor, einen Bus zu mieten, was meine Frau kategorisch ablehnte. Nicht etwa wegen der Kosten – nein, es lag vielmehr daran, dass ich der Einzige bin, der so ein tonnenschweres Monstrum steuern darf. Die Kombination aus mir, einem riesigen Fahrzeug und den Spätfolgen von Kevin-Gandalf-Maltes esoterischem Selbstfindungswochenende (bei dem er aus Versehen eine Überdosis Chakra genommen hat), ließ sie dann doch zögern. Verständlich. Also sprang Jens ein – unser Backup-Papa und bekennender Kinderdompteur – mit eigenem Auto. Eine schöne Gelegenheit, auch mal seine Freundin Alice kennenzulernen, die wegen ihres Kunststudiums sonst hauptsächlich zwischen Pinsel, Performance und Poesieperformance pendelt. Unser Ziel war ein Freizeitpark in der Nähe von Köln – eine gute Stunde Fahrt, Tickets online gebucht. Beim Preis kurz überlegt, ob wir lieber eine Hypothek aufs Haus aufnehmen oder alternativ eine Niere auf dem Schwarzmarkt verticken. Aber hey, was tut man nicht für einen schönen Familientag. Die Fahrt war ausnahmsweise entspannt. Die Kleinen spielten, mein Sohn und Liv führten gegenseitige Höhlenforschung im Mundraum durch, und meine Frau und ich genossen die sanften Klänge von Volbeat. Jens und Alice kutschierten meine Tochter und Kevin-Gandalf-Malte – den Propheten der Lebensmittelintoleranz – der sich selbst als Geistheiler versteht und eigentlich dringend eine eigene Reality-Show verdient hätte. Jens Gesicht beim Aussteigen sprach Bände. Und das von einem Mann, der beruflich mit Kindern arbeitet, die ihre eigenen Eltern für eine Fehlentscheidung der Evolution halten. „Und, wie war die Fahrt?“ fragte ich. „Wenn ich noch ein Wort über energetische Stuhlveränderungen oder die spirituelle Wirkung von veganem Magenwind höre, ertränk ich ihn in der Wasserbahn.“ „Du bist doch selbst Veganer.“ „Eben. Das war der Auslöser für dieses Gespräch.“ „Ich dachte, ihr Veganer seid friedliebend?“ „Das sind Pazifisten. Wir töten keine Tiere. Nervige Menschen waren nie Teil des Deals.“ Er grinste. Ich auch. Der Park selbst ist ein Meisterwerk des Wahnsinns: Direkt am Eingang steht eine Achterbahn, bei der selbst Chuck Norris einen Schnuller bräuchte. Von außen sieht man fast nichts – der perfekte Hinterhalt für Adrenalinverweigerer. Ich hatte die Ehre, Kevin-Gandalf-Malte seine Jungfernfahrt in die Welt der Loopings und Laktose-Extasen zu ermöglichen. Je näher wir der Startplattform kamen, desto nervöser wurde der Prophet. Die Schreie aus den fahrenden Wägen klangen wie ein Chor panischer Operntenöre auf Speed. Zwischenzeitlich ertönte ein lautes Sirren. „Was ist das?“ fragte KGM. „Der Beschleuniger.“ „Was beschleunigt der?“ „Na die Achterbahn. Völlig harmlos.“ Ich glaube, in diesem Moment verlor er ein winziges Stück Vertrauen in mich. Der Rest folgte auf dem Fuß – spätestens, als wir bei Mach 3 durch den ersten Beschleuniger schossen. Kevin kreischte so schrill, dass Delfine weltweit plötzlich Revolution planten. Was ich ihm nicht gesagt hatte: Es gibt noch einen zweiten. Ich wusste gar nicht, dass ein Mensch dermaßen blass werden kann. Wir mussten ihn unten zu zweit aus dem Sitz schälen – zitternd, sprachlos und geistig irgendwo zwischen Jenseits und Kaffeepause. Meine Tochter kümmerte sich rührend um ihn. Ich dagegen verspürte ein dezentes Hüngerchen. „Ich hol mal was zu mampfen“, sagte ich zu Jens. „Klar. Treffen wir uns hier?“ „Ja, bleib mal hier und guck, ob Kevin noch lebt. Der hatte offenbar eine oder zwei Nahtoderfahrungen.“ Pommes geht immer – auch um 11 Uhr morgens. Die kleine Bude hatte sogar schwarzen Tee und ein Getränk, das angeblich Flügel verleiht. Da Kevin etwas kreislaufschwach wirkte, kombinierte ich kurzerhand den Rest meines Kaffees mit schwarzem Tee und dem besagten Flügelgetränk. Das Ergebnis hätte laut Gefahrgutverordnung mindestens ein Totenkopf-Piktogramm gebraucht. „Schau mal Kevin, ich hab dir Tee mitgebracht. Neue Mischung!“ „Was für eine?“ „Schwarzer Tee mit Gummibärensaft.“ „Gummibärensaft?“ „Ja, ganz neu. Der letzte heiße Scheiß bei den Kids.“ Er trank – und zu meiner Überraschung schmeckte es ihm offenbar. Er kippte das Gebräu in einem Zug runter. Jens beugte sich zu mir rüber und flüsterte: „Was war das jetzt? Rattengift oder LSD?“ „Weder noch. Aber er wird gleich wacher sein als ein Eichhörnchen auf Koks.“ Und ich hatte nicht übertrieben. Kevin sprang plötzlich auf wie von einer göttlichen Eingebung gestreift, stand da stocksteif wie eine Schlange auf Viagra, riss die Arme hoch und rief in Priesterstimme: „ICH MUSS KACKEN, SOFORT!“

Das Licht fiel durch die Lamellen der heruntergelassenen Jalousien und tauchte das Büro in einen diffusen Schein, der irgendwo zwischen „mysteriös“ und „Ich-hab-das-Putzen-vergessen“ oszillierte. Ich stand vor dem Fenster und starrte durch die schief hängenden Lamellen auf die Straße, wo Menschen vorbeihasteten, als würden sie das Leben höchstpersönlich verpassen. Auf meinem Arm hatte es sich mein Kater bequem gemacht und genoss die Streicheleinheiten wie ein römischer Kaiser beim Frühstück. Klopf, klopf, klopf ... „Herein.“ Liv betrat das Büro mit der Eleganz einer Steuerfahnderin auf dem Weg zur Selbstverwirklichung und schloss die Tür hinter sich so leise, dass man fast das schlechte Gewissen hören konnte. „Du hast nach mir gerufen?“, fragte sie, als hätte ich sie gerade aus einem Spa geholt. „In der Tat. Wir haben einiges zu besprechen.“ Ich drehte mich langsam um, wie ein Bösewicht im dritten Akt eines mittelmäßigen Theaterstücks, und deutete mit einer einladenden Geste, die irgendwo zwischen Gentleman und Gebrauchtwagenverkäufer lag, auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. Auch ich setzte mich. Der Kater verrutschte leicht, miaute empört und tat dann so, als hätte er das so geplant. „Du hast unseren Propheten jetzt kennengelernt“, begann ich mit der ruhigen Gelassenheit eines Mannes, der gerade beschlossen hatte, sein Leben der Absurdität zu widmen. Sie nickte, als wisse sie, wovon ich rede. Tat sie aber nicht. „Wir werden etwas unternehmen müssen. Ich alleine kann das nicht, also brauche ich einen Verbündeten.“ „Ja, aber was genau hast du da im Sinn?“, fragte sie mit der Skepsis einer Frau, die schon mal auf einen Gutschein für ein romantisches Wochenende hereingefallen war – im Sauerland. „Wenn wir ihn nicht loswerden können, müssen wir ihn bekehren.“ „Klingt gut. Was genau hast du geplant?“ „Noch nichts, ich überlege noch.“ Ich streichelte demonstrativ den Kater, als würde er mir gleich eine göttliche Eingebung schnurren. Sie seufzte. So wie Menschen seufzen, die wissen, dass aus dieser Sache entweder eine geniale Revolution oder ein mittelgroßes Chaos wird. „Vielleicht“, sagte sie schließlich, „sollten wir ihm erstmal eine Einladung zum Tee schicken. Mit Gebäck. Sektenführer sind oft schwach bei Butterkeksen.“ Ich nickte langsam. Butterkekse. Der Schlüssel zur Weltordnung. „Gut“, sagte ich. „Dann back du, ich schreibe die Einladung.“ „Ich kann nicht backen.“ „Ich auch nicht.“ Der Kater gähnte demonstrativ. „Wir werden Pläne schmieden im Verborgenen. Ein Pakt, der mit Blut … äh … Traubensaft besiegelt wird. Apfelsaft kommt nicht in Frage … lange Geschichte.“ „Wurde mir schon berichtet …“ Ich verzog keine Miene. Sie sollte mir meine Unsicherheit nicht ansehen. In ihren Augen sah ich ein dämonisches Aufblitzen – und wir begannen beide, böse zu lachen. „Lasst die Spiele beginnen.“

Es war noch keine acht Uhr morgens, als ich aus dem Schlaf gerissen wurde. „Was genau stimmt eigentlich nicht mit dir? Du hast gesagt Milch – das schmeckt wie Froschsperma!“ Es war eindeutig die Stimme von Liv, die ich als erstes erkannte. „Woher willst du wissen, wie Froschsperma schmeckt?“ Es war KGM, und der Prophet hatte tatsächlich seine Stimme erhoben. Dass ich das noch von einem Pazifisten erleben darf – was kommt als Nächstes? Dass er ein Steak isst? Also trottete ich Richtung Küche, aus der ich die Streitgeräusche deutlich vernehmen konnte. Ich wollte lieber eingreifen, bevor wir hier einen hausinternen Gazastreifen bekommen. Liv und KGM standen sich mit verschränkten Armen gegenüber, zwischen ihnen der Tisch, und darauf stand eine Tasse mit einer hellbraunen Flüssigkeit, die ich als Kaffee mit Milch diagnostizierte. Der Prophet trug seine traditionelle Leinenrobe und war barfuß. Er hatte einen neuen Zehenring mit irgendeinem Stein drauf, der so groß war, dass es bestimmt ein interessantes Schauspiel werden würde, wenn er normale Schuhe tragen müsste. Liv hingegen trug ein langes schwarzes Shirt – vermutlich von meinem Sohn – und repräsentierte den typischen Teenie-Look, inklusive Very Bad Hair Day und verwischter Schminke. „Kann mich einer aufklären, warum es hier zugeht wie bei einer Pressekonferenz von Trump und Selenskyj?“ Sie hielt mir die Tasse, die wenige Sekunden auf dem Tisch stand, unter die Nase. „Trink. Probier selbst!“ Ich nahm die Tasse und wollte gerade ansetzen, als mir eine Geschichte von vor ein paar Tagen in den Sinn kam. Erst riechen. Es roch nach Kaffee mit einer seltsamen Note dabei. „Was ist da drin?“ Wollte ich wissen. „Zieg—“, setzte KGM an, wurde aber von Liv unterbrochen. „Froschsperma. Das ist widerlicher als Schlucken.“ Ich werde diese Bilder nie wieder aus dem Kopf bekommen. „Ziegenmilch“, setzte KGM erbost hinterher. „Weniger Hormone und Eiteranteil als in Kuhmilch. Außerdem selbst gemolken von freilaufenden, glücklichen Ziegen.“ „Woher willst du wissen, dass die glücklich sind?“, hakte ich nach. „Das sagt mir ihre Aura.“ Natürlich. Was hatte ich auch anderes erwartet. Vorsichtig probierte ich den Kaffee. Tatsächlich war diese Form der Kombination schwer gewöhnungsbedürftig, und ich konnte Livs Verärgerung nachvollziehen. „Pass auf, Jesu... Kevin! Du kannst nicht einfach irgendeine Milch, die du gut findest, einschütten – du musst schon fragen.“ Hey, das war diplomatisch. Jedenfalls deutlich diplomatischer als sonst. Also wehe, du Leser, meckerst! KGM war irgendwie in seiner Ehre verletzt, und das friedfertige Kerlchen drehte auf. „Ich wollte nur deinem heiligen Tempel von Körper etwas Gutes tun.“ „Wenn es so wäre, hättest du mir echte Milch gegeben.“ „Das ist echte Milch!“ „Von einer Ziege! Normale Menschen trinken Kuhmilch!“ „Ruhe!“ Ich hatte die Befürchtung, dass durch den Aufruhr der Rest der Familie wach wird und in den Kriegszustand eingreift – was ein gewisses Eskalationspotenzial bot. Und ich war noch nicht bereit, die nächsten Monate einen Atombunker aufzusuchen, weil hier die esoterische Volksfront und die Jünger Satans einen Glaubenskrieg heraufbeschwören. „Ich werde dir jetzt einen neuen Kaffee machen, und danach fahren Kevin und ich einkaufen – für später zum Grillen.“ „Ich esse kein Fleisch“, warf KGM sofort ein. „Ist von glücklichen Kühen!“ „Woher willst du wissen, dass die glücklich waren?“ „Ich kaufe nur Fleisch von Kühen, die beim Bumsen erschossen wurden.“

„ Also nochmal: Setzrunde, Flop, Setzrunde, Turn, Setzrunde, River. Kapiert?“ Seit einer geschlagenen halben Stunde versuchte ich, KGM auf unseren allwöchentlichen Familienpokerabend vorzubereiten. Gespielt wird Texas Hold’em – und KGM? Der kann gerade mal Mau-Mau. Und selbst da verwechselt er regelmäßig Farben mit Werten, Herz mit Klee und legt ab und zu einen Teebeutel statt einer Karte. Ich war fest überzeugt, dass ich einem Schimpansen schneller die Grundzüge der Kernphysik beibringen könnte als diesem Leinen tragenden Alchemisten das Konzept von zwei Hole Cards. „Ja, ich glaub, ich schaff das“, meinte er zuversichtlich. Ich glaubte es ihm zwar nicht, aber ehrlich gesagt war es mir inzwischen auch egal. Hauptsache, er hört auf, den Dealer mit „Bruder Kartenwesen“ anzusprechen. Nach und nach trudelte nun die Familie ein. Oder wie ich sie nenne: meine Gegner. KGM war vermutlich Kanonenfutter, aber meine Frau und meine Tochter – oh Junge. Zwei kaltblütige Bluffmaschinen, ausgestattet mit Pokerfaces, die selbst Terminator Arnold auf Valium alt aussehen lassen würden. James Bond gegen meine Frau in Casino Royale? Der hätte nicht mal mehr einen Schlüpfer gehabt – und der wäre aus Spitze gewesen. Und meine Tochter? Der Spruch „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ wurde für sie erfunden – auch wenn das bei Frauen immer klingt, als würde man über ein rollendes Körperteil sprechen. Auch Liv gesellte sich dazu – bislang pokertechnisch ein unbeschriebenes Blatt, aber mit Slipknot-Shirt, klarem Blick und einem Sarkasmuslevel, das nahelegt, dass sie jederzeit zur psychologischen Kriegsführung übergehen könnte. Mein Sohn war auch dabei – solide Mittelklasse, strategisch irgendwo zwischen Domino auf dem Kindergeburtstag und Risiko mit Opa. „So, sind wir alle versammelt?“ fragte meine Frau mit einem Blick, der sowohl mütterliche Wärme als auch den seelenfressenden Fokus eines Schwarms Piranhas hatte. Ein kollektives „Jupp“ ging durch den Raum – bis auf Liv. „Das ist das familiärste Strip-Poker, bei dem ich je war“, meinte sie trocken. Stille. Blicke. Schlucken. „War nur ein Scherz…“, sagte sie schnell. Aber der Drops war gelutscht. Niemand glaubte ihr, und ich war mir nicht sicher, ob ich beeindruckt oder verängstigt sein sollte. „Ich finde Nacktsein auch vollkommen okay“, warf KGM ein. „Wir sind früher bei den Gruppentreffen nackt wandern gegangen.“ Alle Blicke drehten sich ruckartig zu ihm. Was zur Hölle? Er nannte es „Gruppe“. Ich nenne es „Sektenausflug mit feuchtwarmem Walderlebnis“. Ich schwöre, das waren keine Gruppentreffen, das war eine Mischung aus Wickerman, Öko-Rave und Pilzparty mit Rinde zwischen den Pobacken. Allein die Vorstellung, wie KGM sich mit Moos einreibt und dabei spirituell über Vergänglichkeit doziert… Ein Bäuerchen entwich mir. Reine Selbstbeherrschung. Jeder andere hätte gekotzt. Ich begann die Spielchips zu verteilen, während meine Frau aufsprang. „Möchte noch jemand was trinken?“ Keine Reaktion. Also die Nachfass-Methode: „Cola? Wasser? Bier? …APFELSAFT?“ Sie betonte das Letztere mit einer Süffisanz, die man sonst nur in Mafiafilmen hört, wenn der Pate fragt, ob man nicht lieber doch „zur Familie“ gehören will. Ich antwortete mit einem stillen Mittelfinger, ganz gentlemanlike, während sie grinsend in der Küchentür verschwand. „Um was zocken wir eigentlich?“ fragte mein Sohn, der vermutlich gerade überlegte, ob man mit einem Paar Zweier aggressiv eröffnen sollte. Wie immer zockten wir nicht um Geld, sondern um das Kostbarste in jedem Haushalt: Haushaltspflichten. Der Erste, der rausflog, musste eine Aufgabe übernehmen, die der Gewinner strategisch abwälzte. Es ging um Dinge wie: Wäschetrockner ausräumen, Müll rausbringen, Fenster putzen oder – der Endgegner – die Spülmaschine ausräumen, wenn noch das restliche Rührei vom Vortag am Pfannenboden klebt wie atomarer Beton. Taktisch gesehen war das Ganze ein gnadenloser Todeskampf Marke Tribute von Panem – Die Haushaltsspiele. Nur eben ohne Pfeil und Bogen. Dafür mit Spülmittelflaschen und passiv-aggressiven Blicken. Da KGM und Liv offiziell noch „nur Gäste“ waren – also Lebewesen, die mitessen, mitleben, aber nie Müll runterbringen müssen – spielten sie ehrenhalber. Für ihre jeweiligen Partner. Was bedeutete: Wenn KGM verlor, musste meine Tochter Fenster putzen. Wenn Liv verlor, würde mein Sohn die gesamte Wäsche sortieren. Spoiler: Er würde vermutlich versuchen, Schwarz und Weiß als „spirituell gleichwertig“ zu betrachten und alles zusammen waschen. Das letzte Mal endete das in einer rosafarbenen Boxer-Short-Kollektion, die bis heute als Mahnmal im Schrank liegt, oder war ich das? Die Karten wurden verteilt. Die Stimmung? Knisternd. Wie die Luft vor einem Gewitter. Oder kurz bevor der Rauchmelder beim Anbraten von Speck losgeht. Teil II „Full House?“ Ich musste mir die Augen reiben. „Ist das gut?“ fragte KGM mit einer Unschuld, die entweder gespielt war oder von einem Grad der Naivität zeugte, den man eigentlich nur aus Naturdokumentationen über Lämmer kennt. „Naja... es reicht, um zu gewinnen“, murmelte ich mit trockener Kehle. Ich konnte es nicht fassen. Dieser absolute Poker-Noob, der den Unterschied zwischen Karo und Quinoa gerade mal eben so hinbekam, hatte tatsächlich gewonnen. Mit einem verdammten Full House. Wie viel Glück kann ein Mensch eigentlich haben? Ich hatte es kommen sehen – und trotzdem ignoriert. Ich war siegessicher, überheblich, fast schon biblisch in meiner Arroganz. Und wie es sich gehört in jeder guten Tragödie, folgt auf Hochmut bekanntlich der Fall. Und was für ein Fall. Denn: Ich hatte im Überschwang des Selbstvertrauens das Unaussprechliche angeboten. Ein Versprechen. Ein Einsatz. Ein Satz, der mir jetzt wie ein kalter, nasser Waschlappen durchs Gesicht fuhr: „Wenn du gewinnst, mach ich mit dir ein ganzes esoterisches Wochenende.“ Wie dumm konnte ich eigentlich sein? Vor mir lagen die Karten des Schicksals. Meine Zukunft, mein Stolz, meine Ehre – alles vernichtet. Zerstört durch einen Mann, der beim bloßen Anblick von Käse zur wandelnden Bio-Gas-Anlage mutiert. Meine Frau, natürlich mitfühlend wie ein Zen-Mönch beim Kerzenblasen, versuchte die Situation zu entschärfen. „Schatz, nimm es nicht so schlimm. So kannst du auch mal in seine Welt eintauchen.“ In seine Welt eintauchen? Ich sah es bildlich vor mir: nackt, barfuß, berauscht von irgendwelchen Pilzen, die vorher liebevoll von KGM auf dem Rücken einer Schildkröte gesammelt wurden – während ich mir bei der Kontaktaufnahme mit der Rinde eines Baumes einen Splitter ins Gehänge ziehe. Ein spirituelles Coming-of-Age mit Moos und Mückenstichen. Der Rest der Familie? Amüsiert. Hohn, Spott und kollektives Grinsen. Verräter. Ich fühlte mich wie Cäsar an den Iden des März, nur ohne Toga, dafür mit Jogginghose und gebrochenem Vaterstolz. „Papa, ich werde dich seelisch unterstützen und mitmachen“, sagte meine Tochter, mit diesem Ausdruck von aufrichtigem Mitgefühl, der gleichzeitig nach “Ich filme das und lade es hoch“ roch. Natürlich machte sie mit. Immerhin hatte sie diesen spirituell fermentierten Waldelfen ja in mein Leben geschleppt. In mein einst friedliches, rationales, schnitzelbasiertes Leben. „Das wird so gut!“, sagte KGM begeistert. „Ich hab schon ein Chakra-Zelt bestellt und mein Algenöl aufgeladen.“ Ich sagte nichts. Ich sah mich selbst schon beim Sonnenaufgang auf einem Felsen sitzen, während KGM mir mit einem Didgeridoo die Ohren massiert und ich mir die Frage stelle: Wann genau ist mein Leben eigentlich so dermaßen entgleist?